Erklärung auf Englisch | Italienisch

REFORMATION RADIKALISIEREN
Eine internationale kirchlich-theologische Projektgruppe

DEMOKRATIE IN GEFAHR
Reaktion auf die aktuellen Bedrohungen unserer Demokratie

BETEILIGUNG ALLER KINDER GOTTES
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. (Galater 3,28)

Einführung

Die Institution der Demokratie ist in der heutigen Welt ernsthaft bedroht. Der Aufstieg des Autoritarismus, begleitet von wirtschaftlichem Imperialismus und durchgesetzt mit militärischer Macht, raubt einer großen Zahl von Menschen die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wie sie zusammenleben wollen. Der Apostel Paulus, der unter der imperialistischen, nationalistischen, eigentumsorientierten und patriarchalischen Herrschaft des Römischen Reichs schrieb, verkündet den Galatern, dass Christus sie aus dieser Unterdrückung befreien und ihnen die Freiheit geben kann, relationale, partizipative und gerechte Strukturen des gemeinsamen Lebens zu schaffen.

Mit der frühen Kirche teilen wir die Verpflichtung, in die Fußstapfen Jesu Christi zu treten, der unter uns kam

… zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn. (Lukas 4,18-19)

Aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift, geprägt von unserem reformatorischen Erbe und inspiriert vom mutigen Zeugnis der Bekennenden Kirche in Deutschland, bekennen wir uns zu den folgenden fünf Aussagen und verpflichten uns zu folgenden Handlungen:

1. Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. (1. Mose 1,27)

Wir bekräftigen die von Gott gegebene Heiligkeit allen Lebens und die unveräußerliche Würde und Gleichheit aller Menschen. Obwohl wir weltweit verstreut leben, sind wir eine einzige Familie. Das bedeutet, dass wir niemanden als außerhalb stehend, minderwertig, weniger wertvoll oder gar unwert betrachten dürfen, unabhängig von seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht, seiner Nationalität, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seinem Alter, seiner Religion, seiner sexuellen Orientierung, seinen Fähigkeiten, seiner politischen oder wirtschaftlichen Überzeugung.

Wir bekennen, dass wir durch unsere Einstellungen, unsere Sprache und unser Handeln als Einzelne und als Gruppe ständig einige bevorzugen und andere herabwürdigen. Wir haben geschwiegen angesichts von Ungerechtigkeit, Missbrauch von Menschen und Entweihung der natürlichen Schöpfung Gottes.

Wir sind dankbar für das Erbe der Protestantischen Reformation, das anerkennt und bekräftigt, dass alle Menschen den gleichen Wert und die gleiche Würde besitzen, da sie nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Wir erinnern an das Bekenntnis der Reformation zum allgemeinen Priestertum der Gläubigen und daran, dass alle Christen eine einzige Berufung haben: Gott und ihren Nächsten zu lieben. In der Nachfolge Jesu, der niemanden ausgegrenzt hat – weder Zöllner, Prostituierte, Samariter, Römer, Galiläer, Frauen, Männer noch Kinder –, brach die Reformation mit der hierarchischen Wertung der menschlichen Familie. Mit ihrem Beharren darauf, dass Gottes freie Gnade ein Geschenk für alle Menschen ist, legte die Reformation den Grundstein für die weltweite Bekräftigung der universell garantierten Menschenrechte.

Wir lehnen daher ab: jede Form von Vorurteilen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Nation, ethnischer Zugehörigkeit, Alter, Religion, sexueller Orientierung, Fähigkeiten, politischer oder wirtschaftlicher Überzeugung. Wir werden Vorurteile in uns selbst und in unseren Gemeinschaften offen ansprechen. Wir lehnen jede Form von Antisemitismus ab. Diskriminierung von Juden in Wort und Tat wird unter uns nicht toleriert werden. Ebenso wenig tolerieren wir die Diskriminierung von Muslimen, Schwarzen, Indigenen, Roma, Sinti, Dalits oder anderen Minderheiten, sei es in persönlichen Beziehungen oder in öffentlichen oder privaten Institutionen.

Wir verpflichten uns,

  • alle Menschen, einschließlich Menschen anderer Nationen, Milieus oder sexueller Orientierung, in Gottesdienst und Seelsorge zu bejahen und willkommen zu heißen. Wir werden für ihre vollständige Akzeptanz und Einbeziehung in alle Dimensionen des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens kämpfen;
  • die gemeinsamen Glaubens- und Wertvorstellungen zu erforschen, die zwischen der Kirche und anderen Glaubensgemeinschaften—Juden, Muslimen, Buddhisten und anderen—bestehen, und mit ihnen an Projekten zusammenzuarbeiten, die dem Gemeinwohl dienen.

2. Denn alle Völker gehören dir (nach Psalm 82); Es gibt weder Juden noch Griechen, es gibt weder Sklaven noch Freie, es gibt weder Mann noch Frau, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus. (Galater 3,28)

Wir bekräftigen unseren Glauben an den einen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der die ganze Schöpfung erlöst und dessen Botschaft der Hoffnung alle Menschen umfasst. Die Götter von Blut und Boden, Familie, Rasse, Nation und Ideologie sind Götter der Ungerechtigkeit. Sie sind letztlich machtlos vor dem einen Gott, der allein Herr ist.

Wir bekennen, dass wir, indem wir auf Kosten anderer nach Reichtum, Status und Macht für uns selbst streben, diese falschen und ungerechten Götzen, eben jene Götter der Nation, des Blutes, des Geschlechts und der Rasse anbeten. Wir haben unsere Nationen und Ideologien mit Symbolen unseres Glaubens eingehüllt, in dem unrechtmäßigen Versuch, ihnen endgültigen Wert zu verleihen. Wir [in den USA] haben unsere Nationalflaggen in unseren Kirchen aufgestellt, nationalistische Hymnen gesungen, wir haben gepredigt und in einer Weise gebetet, die unserer eigenen Nation den höchsten, d.h. einen höheren Wert als allen anderen zuerkannte.

Wir sind dankbar für das Erbe der Reformation und ihre Forderung, dass kein irdisches Objekt der Loyalität, sei es Nation, Blut, Boden, Ideologie oder Institution – einschließlich der Kirche selbst – den höchsten Status erhalten darf. Nichts Endliches kann auf die Ebene des Unendlichen erhoben werden. Das erste Gebot ist klar: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ (2. Mose 20,3) Wie Martin Luther betonte: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Alles andere ist Götzendienst. Wir bekennen, dass wir angesichts der Ungerechtigkeiten, die unsere Institutionen und Regierungen begangen haben, geschwiegen haben und untätig geblieben sind. Wir sind mit der Realität konfrontiert, dass in zahlreichen Ländern Massen von armen und marginalisierten Menschen Opfer einer Wirtschafts- und Handelspolitik sind, die unseren Ländern, unseren Konfessionen und vielerorts auch unserem Kastenwesen Sonderprivilegien erlauben und zugestehen.

Wir lehnen daher ab: den globalen Trend zu autoritärer Herrschaft mit ihrem Anspruch auf wirtschaftliche und militärische Oberherrschaft. Vor allem weisen wir die Vermischung religiöser und nationaler Symbole ab, die impliziert, dass eine Nation in Gottes Augen eine Sonderstellung einnimmt und daher zu Recht Anspruch auf Privilegien, auf wirtschaftliche und militärische Macht hat. Wir lehnen die unrechtmäßigen Ansprüche jeder Nation ab, moralisch außergewöhnlich oder anderen überlegen zu sein. Wir lehnen insbesondere die „Doktrin der Entdeckung ab“, mit der europäische Nationen das Recht beanspruchten, die Territorien der indigenen Völker im Norden und Süden zu kolonisieren und auszubeuten. Obwohl diese Doktrin vom Vatikan, der ELCA (Evangelical Lutheran Church in America) und anderen Kirchen (2023) abgelehnt wurde, bleibt sie als ein Instrument der Herrschaft und Ausbeutung in Gebrauch.

Wir verpflichten uns

  • in unserer Kirche Veränderungen herbeizuführen, die ihr zentrales Bekenntnis zur Erlösung aller Menschen durch die freie Gnade, die wir in Christus erfahren, widerspiegeln. Darüber hinaus werden wir uns bemühen, die Symbole des Glaubens von den Symbolen der Nation zu trennen, indem wir, wo gegeben, nationale Flaggen aus unseren Gotteshäusern und nationalistische Lieder aus unseren Gesangbüchern entfernen.
  • den Heilungsprozess mit den Ureinwohnern nach dem Skandal der durch die „Doktrin der Entdeckung“ sanktionierten Internate für indigene Kinder fortzusetzen.
  • uns gegen die vielen Formen des religiösen Nationalismus zu stellen, sei er christlich, jüdisch, islamisch, hinduistisch, schintoistisch oder buddhistisch, die versuchen, religiöse Rechtfertigungen für den Anspruch einer Nation auf besondere Tugenden, Weisheit, Privilegien oder eine besondere Berufung durch Gott zur Herrschaft über andere zu liefern;
  • unsere kirchenleitenden Personen und Organe zu ermutigen, im Geiste der Barmer Theologischen Erklärung (1934) zusammenzukommen, um einen Konsens über unseren gemeinsamen Widerstand gegen die Ideologie des christlichen Nationalismus zu erzielen.

3. Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. (1. Mose 12,2-3)

Wir bekräftigen den alten Bund Gottes mit Abraham und seine Bedeutung für alle Familien der Erde. Wir erkennen die besondere Rolle an, die die Familien der Kinder Abrahams, nämlich das Judentum, der Islam und das Christentum, bei der Weitergabe dieses Segens spielen. Wir erkennen an, dass die Verheißung von Territorium immer mit Bedingungen einherging und daher nicht als Privileg verstanden werden sollte. Vielmehr beinhaltet das Versprechen von Grund und Boden die verantwortliche Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass er ein Segen für alle Völker sein kann.

Wir bekennen,

  • dass unsere lutherische Tradition Elemente enthält, die das jüdische Volk zu Unrecht herabgewürdigt und verletzt haben. Martin Luther hat Äußerungen gemacht und Schriften gegen das Judentum verfasst, die abstoßend sind und großen Schaden angerichtet haben. Der Lutherische Weltbund (LWB) hat sich zu Recht von diesen Äußerungen distanziert;
  • dass einige unter uns, die sich zu Christus bekennen, sich abfällig über Juden und Muslime geäußert und damit den Antisemitismus und die Islamfeindlichkeit angeheizt haben. Insbesondere die Ideologie des christlichen Zionismus ist eine Irrlehre und falsche Darstellung, die die Lehren des Judentums, des Islam und des Christentums verzerrt. In seinem Bestreben, das Kommen von Armageddon, des apokalyptischen Endkampfes, durch die Zerstörung der drittheiligsten Stätte des Islam, der Al-Aqsa-Moschee in der Altstadt von Jerusalem, zu beschleunigen und sie durch den Bau des Dritten Tempels zu ersetzen, schürt der christliche Zionismus Angst und Gewalt im gesamten Heiligen Land. Indem er den israelisch-palästinensischen Konflikt in einen religiösen Konflikt abwandelt, verzerrt der christliche Zionismus alle drei abrahamitischen Glaubensrichtungen und schafft weit verbreitete Feindseligkeit und Entfremdung;
  • dass wir zu den gefährlichen Ansprüchen sowohl palästinensischer als auch israelischer Extremisten geschwiegen haben. Am destruktivsten waren die Forderungen sowohl der Hamas (in der Charta der Islamischen Widerstandsbewegung) als auch von Mitgliedern des Kabinetts der israelischen Regierung, die beide ein von Gott gegebenes Exklusivrecht auf das gesamte Land vom Nil bis zum Euphrat beanspruchen;
  • dass einige von uns angesichts des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023 geschwiegen haben. Wir verurteilen dieses Massaker sowie die Misshandlung der als Geiseln genommenen Zivilisten auf das Schärfste. Wir haben auch angesichts der zur Vergeltung durchgeführten Bombardierung ziviler Bevölkerungszentren durch die israelische Regierung geschwiegen. Wie aus Erklärungen von Mitgliedern des israelischen Kabinetts hervorgeht, richten sich diese unerbittlichen Bombardierungen, die zehntausende Menschen getötet und verstümmelt haben, nicht nur gegen militante Hamas-Kämpfer, sondern gegen weite Teile der palästinensischen Bevölkerung. Dies ist nichts weniger als Völkermord. Wir bekennen auch, dass wir nicht genug getan haben, um auf die Nakba (die „Katastrophe“) zu reagieren, die gewaltsame Vertreibung und Enteignung arabischer Palästinenser, die 1948 begann. Zusammen mit einem Großteil der Weltgemeinschaft haben wir tatenlos zugesehen, wie auf arabischem Land illegale Siedlungen errichtet wurden, wie die Menschen- und Bürgerrechte von Palästinensern verletzt wurden und wie palästinensische Kultur durch den Staat Israel unterdrückt wurde. Wir haben viel zu lange geschwiegen, während die illegale israelische Besatzung den Palästinensern ihre bürgerlichen, nationalen und politischen Rechte verweigert hat.

Wir sind dankbar für das Erbe der Reformation und ihre klare Bevorzugung der Rolle der Zivilgewalt bei der Aufrechterhaltung von Frieden, Gerechtigkeit und guter Ordnung in der Gesellschaft. Gleichzeitig erkennen wir die Legitimität des Aufrufs der Reformation zum Widerstand der Bürger (Martin Luthers Traktat „Von der weltlichen Obrigkeit: Wie weit man ihr Gehorsam schuldet“) an, wenn die herrschende Gewalt grausam und ungerecht wird. Dem Rat von Petrus und den Apostel folgend („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Apostelgeschichte 5,29), unterstützen wir die Kirchen im Heiligen Land und würdigen ihr Engagement für gewaltfreien Widerstand gegen jahrzehntelange Unterdrückung.

Wir lehnen ab: die Behauptungen jüdischer und muslimischer Fundamentalisten, Gott habe ihnen das Land vom Nil bis zum Euphrat bedingungslos gegeben. Es ist dieser Anspruch, der alle Friedensverhandlungen untergraben hat und derzeit eine Zwei-Staaten-Lösung praktisch unmöglich macht. Wir weisen auch die Ideologie des christlichen Zionismus zurück, seine unbiblische Weltanschauung, seinen Missbrauch der Heiligen Schrift sowie seinen gegenwärtigen Einsatz als Waffe gegen das palästinensische Volk. Wir lehnen die jüngst geäußerten Ansprüche der neuen Regierung der Vereinigten Staaten auf  Gaza und dessen Entwicklung für ihre eigenen Zwecke ab.

Wir verpflichten uns,

  • uns für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes einzusetzen und diese zu fördern. Wir glauben weiterhin, dass die Zwei-Staaten-Lösung, bei der der Staat Palästina entlang der Grenzen von 1967 neben dem Staat Israel existiert, eine realistische Möglichkeit ist. Mit Sicherheitsgarantien für beide Staaten wird es möglich sein, in Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zusammenzuleben. Wir verpflichten uns, uns dafür einzusetzen, dass Jerusalem gemeinsame Hauptstadt der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam sowie der beiden Nationen Palästina und Israel wird. Daher unterstützen wir den umfassenden Plan der Arabischen Liga vom 4. März 2025;
  • uns für die sichere Rückkehr aller von Hamas genommenen Geiseln und gegen die Vergeltungsmaßnahmen des Staates Israel gegen die Bevölkerung und die Infrastruktur des Gazastreifens auszusprechen. Solange die illegale israelische Besatzung andauert, fordern wir die Vereinigten Staaten und andere Nationen auf, die Lieferung von Militärgütern einzustellen. Wir fordern alle Parteien auf, die Feindseligkeiten unverzüglich einzustellen und humanitäre Hilfe sowie Nahrung für die bedrängte Zivilbevölkerung zuzulassen;
  • uns gegen Drohungen von Mitgliedern des israelischen Kabinetts und ihren Verbündeten auszusprechen, die eine gewaltsame Vertreibung der Palästinenser aus ihrer angestammten Heimat Gaza fordern;
  • uns energisch gegen den Anspruch der Vereinigten Staaten zu wehren, ein Recht auf den Besitz, den Ausbau und den Eigennutz des Gebiets von Gaza zu haben;
  • die palästinensischen Christen, die derzeit nur einen kleinen Teil der Bevölkerung (ca. 1%) ausmachen, zu unterstützen, ihre einzigartige Position als ausgleichende Kraft zu nutzen, um einen Dialog zu initiieren und zu einem gerechten Frieden beizutragen. Wir möchten den palästinensischen Christen auch versichern, dass wir ihnen für ihre bedeutende Rolle in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Versöhnung dankbar sind. Dies sind wichtige Funktionen, die allen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Nationalität, ihrer Religion und ihrer politischen Überzeugung zugutekommen.

4. Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (Galater 5,14)

Wir bekräftigen die zentrale Bedeutung dieses biblischen Gebots, wie es im Leben und Wirken Jesu zum Ausdruck kommt und seine radikalste Bedeutung erhält, nämlich sich besonders denen in Liebe, Inklusion und Hilfe zuzuwenden, die marginalisiert oder ausgegrenzt werden oder denen die Gesundheitsversorgung, Nahrung oder die für das Leben notwendigen Grundgüter verweigert werden.

Wir bekennen, dass wir diesem zentralen Gebot nicht gefolgt sind. Angetrieben von unserer Gier, unserem Streben nach mehr Besitz, mehr Reichtum und mehr Macht, sind wir in einem Gefängnis gefangen, das wir selbst geschaffen haben. Wir haben uns selbst, unsere eigene Familie und soziale Gruppe bevorzugt. Wir bekennen, dass die unerbittliche Realität von extremer Ungleichheit den Alltag der Massen armer und marginalisierter Menschen in zahlreichen Ländern bestimmt. Sie sind nicht nur Opfer unserer persönlichen Gier, sondern auch der durch westliche kapitalistische Nationen errichteten Wirtschafts- und Handelspolitik. Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Kluft und der Zerstörung der Natur durch das systemische Streben nach Wachstum („Wachstumsimperativ“) erkennen wir an, dass das System, auf dem sie beruht, radikal umgestaltet werden muss.

Wir sind dankbar für eine Reformationsgeschichte, in der das biblische Zeugnis nicht nur auf die persönliche Sündhaftigkeit, sondern auch auf die durch die Wirtschaftsstrukturen geschaffene Ungerechtigkeit und Ungleichheit angewendet wurde. Wir würdigen Luthers Kritik an der frühen Profitwirtschaft und seine Zusammenarbeit mit der politischen Obrigkeit zur Schaffung von Institutionen zur Sozialhilfe (der „gemeine Kasten“), die konstruktive Veränderungen in den Volkswirtschaften Europas bewirkten. Wir erinnern mit Dankbarkeit daran, wie Luthers Verständnis der Heiligen Schrift zur Schaffung einer gemeinschaftlichen Gesundheitsversorgung für Kranke und Behinderte, zur öffentlichen Bildung für Frauen und Männer sowie zu Einrichtungen führte, die Waisen, Witwen und Alten finanzielle Sicherheit und Pflege boten. Wir sind auch allen internationalen ökumenischen Kirchenorganisationen dankbar, die den imperialen Kapitalismus offiziell abgelehnt haben (LWB 2003, WARC 2004, ÖRK und Papst Franziskus für den Vatikan 2013).

Wir lehnen daher ab: einen persönlichen Lebensstil, der nicht im Einklang mit den Anforderungen unseres Glaubens steht. Wir weisen die politischen Leitlinien unserer Regierung [in den USA] zurück, die den Massen der armen und marginalisierten Menschen in der Welt nicht gedient haben. Wir lehnen die Wirtschafts- und Handelspolitik ab, die dazu dient, den Reichtum einiger weniger zu sichern und gleichzeitig Massen von Menschen zu Armut zu verurteilen.

Wir verpflichten uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Fußstapfen der Reformatoren zu folgen, indem wir Strukturen und Praktiken schaffen, die darauf abzielen, den Reichtum der Schöpfung Gottes mit der gesamten Menschheitsfamilie zu teilen; dies beginnt mit unserer persönlichen Verpflichtung, einen einfacheren Lebensstil anzunehmen und Nahrung und Kleidung mit den Bedürftigen zu teilen. Dies geht jedoch weit über den persönlichen Lebensstil hinaus und umfasst die Schaffung sozialer Strukturen und politischer Maßnahmen auf lokaler und internationaler Ebene, die sicherstellen, dass alle Menschen angemessene Unterkunft, Nahrung, Bildung, Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und die Möglichkeit zur Teilnahme am demokratischen Prozess haben. Wir verpflichten uns und unsere Kirche, uns für den schwierigen Prozess des systemischen Wandels mit dem Ziel der Demokratisierung der Weltwirtschaft einzusetzen.

5. Denn die Zeit ist da, dass das Gericht beginnt bei dem Hause Gottes. Wenn aber zuerst bei uns, was wird es für ein Ende nehmen mit denen, die dem Evangelium Gottes nicht glauben?  (1. Petrus 4,17)

Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. (2. Korinther 4,7)

Wir bekräftigen, dass die eine heilige, katholische und apostolische Kirche, die auf der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente gegründet ist, dazu berufen ist, ihr Leben ständig zu erneuern. Sie ist frei, ihre Form um ihrer Sendung willen zu verändern. Die Verkündigung der neuen Schöpfung wird Bestand haben, auch wenn alle irdischen Strukturen zerstört sind und alle Formen der Religion, einschließlich der Formen des Christentums selbst, verschwunden sind.

Wir bekennen, dass wir häufig dazu neigten, die Strukturen der Kirche über die Botschaft der Kirche zu stellen. Wir haben unser kirchliches Leben über unsere Berufung gestellt, die Hungrigen zu speisen und den Unterdrückten Freiheit zu bringen. Wir fühlten uns nicht frei genug, die Strukturen aufzugeben, die uns bequem gemacht und uns von den Schmerzen der Hungrigen, der Armen und der Behinderten entfernt haben.

Wir sind dankbar für das Beharren der Reformation darauf, dass die Kirche selbst unter Gottes Gericht steht und ständig der Reform bedarf. „Ecclesia reformata sed semper reformanda“ (Die reformierte Kirche bleibt immer eine zu reformierende). Martin Luther rief die Kirche zur Umkehr auf, weil sie ecclesia peccatorum, also eine Kirche der Sünder, ist. Seine 95 Thesen warfen der frühen Profitwirtschaft vor, die Gier institutionalisiert zu haben, und der Kirche als Partner des Bankwesens, ein System der Gier und Ausbeutung aufrecht zu erhalten, das auf Leistung basiere. Wir erkennen mit Dankbarkeit die historischen lutherischen Bekenntnisse an, die einen Mechanismus, den status confessionis (Formel der Konkordie, Artikel X „Adiaphora“), enthalten, der die Ablehnung von Praktiken fordert, die in direktem Widerspruch zum Evangelium stehen.

Wir lehnen daher ab: die unheilige Allianz der Kirche mit einem wirtschaftlichen und politischen System, das die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich weiter verschärft. Da das ständige Streben nach Profit so hohe Anforderungen an die natürliche Umwelt stellt (fossile Brennstoffe, CO2-Emissionen, Umweltverschmutzung), steht die Welt vor einer großen Klimakrise. Wir weisen allen Missbrauch von Religion zur Rechtfertigung der Herrschaft über andere Menschen und über die natürliche Welt zurück. Wir lehnen jede Ideologie ab, die für sich einen göttlichen Auftrag beansprucht, das Kapital zu kontrollieren, die Regeln des Handels zu diktieren und so letztlich ihre Herrschaft über die Welt zu rechtfertigen.

Wir verpflichten uns,

  • zur fortwährenden Reformation der Kirche. In vielen Dimensionen ist sie ein Abglanz des heutigen laissez-faire-Kapitalismus. Dieses Thema wird in der Regel vermieden, da jede Kritik an der unheiligen Allianz der Kirche mit dem Kapitalismus unter die Pauschalvorwürfe des „Sozialismus“ oder „Kommunismus“ gerät.  Wir werden stattdessen versuchen, jenseits solcher Schlagworte einen Raum für die offene Diskussion der vielen Facetten dieses kritischen Themas zu schaffen;
  • die Lehren aus der Bekennenden Kirche Deutschlands ernst zu nehmen, einschließlich ihrer öffentlichen Ablehnung des Rassismus, der dem weißen christlichen Nationalismus im sogenannten „Arier-Paragraph“ innewohnte. Er diente dem Ausschluss von Juden aus Kirchen, Geschäften und Regierungsämtern und der allgemeinen Nazifizierung der Kirche. Gleichzeitig schockierend und hochrelevant ist die Art und Weise, wie ähnliche Bedrohungen heute auftreten, unter anderem in den Vereinigten Staaten, wo Formen des weißen christlichen Nationalismus die Demokratie untergraben;
  • die ökumenische Kirche durch die Vermittlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) aufzufordern, ernsthaft über die Entwicklung eines Bekenntnisprozesses (processus confessionis) nachzudenken, mit dem Ziel, die gegenwärtige Situation als Zeit des besonderen Bekenntnisses, als status confessionis, zu erklären, um einer direkten Bedrohung des Evangeliums entgegenzutreten. Wie uns die Reformation fortwährend verpflichtet, die zentrale Bedeutung des Evangeliums zu bewahren, so ermutigt und inspiriert uns fortwährend das Handeln der Bekennenden Kirche Deutschlands, wie es in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 zum Ausdruck kommt. Darum appellieren wir an den ÖRK, seine Mitglieder aufzufordern, die toxische ideologische Mischung aus imperialem Kapitalismus und weißem christlichem Nationalismus kategorisch abzulehnen. So wie Josua das Volk seiner Zeit herausforderte, ist diese Erklärung eine Herausforderung für uns. Es ist eine Zeit der Entscheidungen.

Gefällt es euch aber nicht, dem HERRN zu dienen, so wählt euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter gedient haben jenseits des Stroms, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus wollen dem HERRN dienen. (Josua 24,15)

Original (in Englisch) veröffentlicht an Ostern 2025

Projektgruppe Radikalisierung der Reformation

USA:

Rev. Dr. Karen Bloomquist, Prof. Dr. Brigitte Kahl, Prof. Dr. Cynthia Moe-Lobeda, Prof. Dr. Craig L. Nessan, Prof. Dr. Samuel Torvend, Rev. Dr. Paul A. Wee

Lateinamerika:

Dr. Claudete Beise Ulrich/Brasilien, Prof. Dr. Daniel Beros/Argentinien, Dr. Jaime Prieto/Costa Rica, Prof. Dr. Lauri Wirth/Brasilien

Europa und Naher Osten:

Prof. Dr. Ulrich Duchrow/Deutschland, Prof. Dr. Fernando Enns/Deutschland, Dr. Michael Grzonka/Deutschland, Rev. Dr. Anna Karin Hammar/Schweden, Pfr. Dr. Martin Hoffmann/Deutschland, Rev. Dr. Munther Isaac/Bethlehem, Prof. Dr. Hans Ulrich/Deutschland, Bischof Munib Younan/Jerusalem, Dr. Antonella Visintin/Italien

Asien:

Prof. Junaid S. Ahmad/Pakistan, Prof. Dr. Charles Amjad-Ali/Pakistan, Prof. Dr. Evangeline Anderson-Rajkumar/Indien, Rev. Surya Samudera Giamsjah/Indonesien, Prof. Dr. John Itty/Indien, Rev. Dr. Prof. Praveen P.S. Perumalla/Indien, Rev. Christopher Rajkumar/Indien, Rev. Josef P. Widyatmadja/Indonesien

Afrika:

Dr. Moiseraele Prince Dibeela/Botswana, Prof. Dr. Maake J. Masango/Südafrika, Dr. Marthie Momberg/Südafrika,